Samstag, 14. Dezember 2013


Short Storys - Klappe die Vierte

                                       (Der Erste Tag in Kalkutta)

Ankommen in Kalkutta. Es ist acht Uhr morgens, die Sonne brennt vom Himmel und überall Palmen. Ich bilde mir ein, schon den Indischen Ozean riechen zu können, eigentlich sind es aber wohl eher die überdimensionierten Müllberge vor der Stadt. Die Stimmung ist entspannt, selbst viele der, in und auf den Vorortzügen gestapelten Menschen, haben ein Lächeln und ein typisch indisches Kopfwackeln für dich übrig. 
Der Bahnhof ist ungefähr fünfmal so groß wie der, den ich aus New-Delhi kenne. Mit fünfmal so vielen Indern darin. Ich glaube noch niemals zuvor so viele Menschen, wie innerhalb der nächsten zehn Minuten, mit eigenen Augen gesehen zu haben. Mit einem Berliner und einem Japaner - den wir gerade im Zug kennengelernt haben - im Schlepptau, lasse ich mich von den Menschenmassen, Richtung Ausgang schieben. Wir sind am westlichen Bahnhof Kolkattas, Howrah Junction, angekommen. Kalkutta ist durch den Hugli in zwei Stadtteile getrennt und um von Howrah zum Zentrum zu kommen, muss man erst noch, mit einer der vielen Fähren, auf die andere Seite des Flusses setzen. Obwohl unser Boot definitiv überladen ist und ausschaut, als sei es seit weit über fünfzig Jahren in Betrieb, erreichen wir souverän das andere Ufer. Nach dem üblichen Palaver mit einem der Taxifahrer, geht es dann los in die City. 

Und ich bin nicht mehr wirklich überrascht, dass auch Kalkutta als fünfte große Stadt die ich auf dem indischen Subkontinent besuche, sich komplett von meinen vorhergegangen Erfahrungen unterscheidet. 
Augen auf und genießen! Viele der Häuser sind prächtige alte Kolonialbauten, wie der Rest der Stadt aber mit dem immer präsenten, indischen Vintage-Look überzogen. Hier und da stehen selbst im Stadtzentrum, nur noch baumüberwachsene Ruinen. Die Straßen sind riesig und es fahren mehr normale Autos (die meisten schon fast Oldtimer), als Rikschas oder Motorräder, über die Hauptstraßen Kalkuttas. Am ehesten erinnert mich das Zentrum Kolkattas an Havanna, nur das die Strandpromenade hier fehlt.
Nach dem Finden eines Hotels und einem entspannten Stadtspaziergang, geht es gegen fünf, dann in eine der zahlreichen Bars, um ein kühles Bier zu trinken. In Varanasi fast unmöglich, hier - genau wie Fleisch - an jeder zweiten Straßenecke zu haben. 
Danach soll es noch ins Kino gehen. Ein drei Stunden dauernder, kunterbunter Bollywood-Streifen, mit viel Getanze, konservativen Geschlechterbildern und einem Kinosaal, der jedes mal wenn einer der Hauptdarsteller ein bisschen Haut zeigt, zum Tollhaus wird. 
Und wie so oft kommt es dann doch völlig anders. 

In der Bar lernen wir zwei Inder, die aus den Bergen Darjeelings kommen, kennen. Wie sie uns ziemlich schnell klar machen wollen, betrachten sie sich nicht als normale Einwohner Kolkattas. Eine Jahrzehnte alte Feindschaft, auf Vorurteilen basierend, trennt die Einwohner Kolkattas und die zugewanderten Menschen aus den Bergen. Diese leben in Kolkatta seit Generationen, in der sogenannten Hill-Community, einem ganz bestimmten Stadtteil in Kolkatta. Die zwei Inder beschreiben es uns als eine Mischung aus dem Brooklyn der 70er, dem L.A. der Tupac-Generation sowie einem Hauch des Gefühls ihrer Heimatgemeinden in Darjeeling. Das die Situation zwischen diesen Gruppen in Kolkatta angespannt ist, bekommen wir danach dann auch gleich hautnah mit, als zwischen dem Kellner und den langsam angetrunkenen Tischgenossen, die Emotionen aufgrund einer einzigen Bemerkung sofort hochkochen. 
Die Jungs um die fünfundzwanzig, sind zwar ein bisschen Möchtegern-Gangster, aber ebenso lustige Zeitgenossen. Und nach drei weiteren Runden Bier - das hier fataler weise nur in Literflaschen verkauft wird - ist unser Kinoplan schon lange gestorben. 
Nach den üblichen Männer-trinken-gemeinsam-Alkohol-und-verbrüdern-sich-danach-Ritualen, werden wir kurzerhand zu den Jungs nachhause eingeladen. Wir sind inzwischen fünf Leute. Zwei Deutsche, die zwei Inder aus den Bergen Darjeelings und ein Kumpel von ihnen aus Kalkutta. Wir teilen uns auf. Drei fahren auf dem Motorrad des einen mit - das, bevor alle überhaupt wirklich sitzen, schon einmal umgefallen ist - und ich setze mich mit einem der Jungs aus Darjeeling, in ein Taxi. Ab geht's in den Dschungel dieser riesigen Stadt. 

Als wir endlich ankommen und uns nach fast einer Stunden wieder treffen, befinden wir uns weitab jeglicher Touristenviertel, in der Hill-Community. Obwohl auf den ersten Blick, tatsächlich nicht gerade eine vertrauenserweckende Gegend, fühle ich mich solange wir mit den drei Indern unterwegs sind, total sicher. Nachdem wir noch drei weitere Freunde der Inder aufgesammelt haben, geht es zu sechst in ein leerstehendes Musikstudio. 
Die Mischung aus besetztem Haus, Drogenhöhle und Zeltlager die wir dort vorfinden, kommt mir in diesem Moment geradezu abstrus vor. Das gesamte Haus, wohlgemerkt drei komplett eingerichtete Etagen, steht einfach leer. Eines der Projekte des neuen, modernen Indiens, von dem man nichts in einer Zeitung liest. Die Schattenseite der Investitionswut und des Risikomutes so mancher Menschen hier. 
Um das Haus herum, hat sich eine Gemeinschaft junger Inder, hauptsächlich  aus Darjeeling kommend, gebildet. Und wenn man sich mit ihnen unterhält, steigt man sehr schnell dahinter, dass sie alle im Grunde ein gutes Herz haben, auch wenn ich ihnen, ohne sie zu kennen, nicht nachts allein auf der Straße begegnen will. Wir machen was man in einem verlassenen Musikstudio und besetztem Haus in einem, normalerweise eben so macht. 
Und ganz nebenbei genieße ich es, auf die so oft beschworene und bestimmt auch oft nötige Wachsamkeit des Reisenden, zu pfeifen. Ich vertraue diesen Menschen. Und wenn ich wirklich über solch eine schlechte Menschenkenntnis verfüge und mich am Ende des Abends, doch ausgeraubt im Straßengraben wiederfinde, spielt das in diesem Moment keine Rolle. Das ist das Risiko, dass ich bereit bin einzugehen, um solche Situationen zu erleben und wirklich genießen zu können. Ein immer besorgter Reisender ist kein glücklicher Traveller. 

Nach einer, mir weiterhin unbekannten Zeitspanne, in diesem abgefahrenen Haus, geht es nach Mitternacht, wieder zurück ins Hotel. Aber in diesem Teil der Stadt fahren nicht wirklich viele Taxis und der Satz "Ich hab keine Ahnung wo ich mich befinde" ist in meiner augenblicklichen Verfassung noch eine nette Umschreibung für meine totale Orientierungslosigkeit. Doch wie es an so einem bis dahin perfekten Tag sein muss, löst sich auch dieses Problem in Luft auf. Einer der Jungs erklärt sich nochmal für eine kurze Motorrad-Spritztour bereit. Rund wie ein Buslenkrad will der Kerl noch fahren? Nach kurzem Abwägen meiner Optionen, hole ich zweimal tief Luft und steige hinten auf das Motorrad. Mit einem Berliner und einem Inder aus Darjeeling, auf einer Rennmaschine, durch die Nacht Kalkuttas.
Überraschend schnell und ohne größere Zwischenfälle, kommen wir sogar noch vor ein Uhr nachts, an unserem Hotel an. Kurz bevor der Nachtportier zuschließt, schlupfen wir durch die Gittertür in unsere Unterkunft. Als ich in mein Bett falle, habe ich das Gefühl seit zwei Tagen auf den Beinen zu sein. 

                                                                    Film Ende



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